HERMAN MELVILLE

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Herman Melville (1819-1891) gilt heute allgemein nicht nur als Amerikas größter Schriftsteller, sondern als ein Weltautor, dessen Werk in alle wichtige Sprachen übersetzt worden ist. Seine Sprachgewalt und geistige Tiefe sowie die vielschichtigen Verflechtungen von realistischem Faktenreichtum und universalen Sinnbezügen – vor allem in Moby-Dick – eröffneten seiner Zeit literarisches Neuland. In seinen Gestaltungsweisen und Aussagen war Melville dem Erfahrungshorizont und den Rezeptionsgewohnheiten seiner Zeitgenossen so weit voraus, dass er bei Lesern und Kritikern zumeist auf Unverständnis stieß und noch zu Lebzeiten in Vergessenheit geriet. Bestenfalls erinnerte man sich an ihn als den „Mann, der unter den Kannibalen lebte “ in Hinblick auf den exotischen Südseeroman Typee, den er als junger Ex-Matrose nach einer vierjährigen Walfangreise im Pazifik geschrieben hatte.

Dreißig Jahre nach seinem Tod wurde Melville 1920 wiederentdeckt. Raymond Weaver, ein junger New Yorker Literaturwissenschaftler, fand in einer Brotdose im Haus einer Enkelin des Autors seinen unvollendeten letzten Roman Billy Budd und gab diesen posthum heraus. Es war dies der Beginn des sog. “Melville-Revival“, d. h. der unerhört rasch anwachsenden enthusiastischen Rezeption seines Werkes durch immer neue Leser- und Kritikergenerationen über ein Jahrhundert hinweg. Legionen von Literatur- und Kulturwissenschaftlern loteten seine acht Romane, 18 Erzählungen und späteren Versdichtungen akribisch aus und brachten eine Überfülle an Monographien, Artikeln, Interpretationen und biographischen Werken hervor. Nur wenig davon wurde je ins Deutsche übersetzt, auch nicht Hershel Parkers “definitive“, im Jahr 2002 vollendete., 2000-seitige Biographie. Das enzyklopädische Standardwerk, das allen nachfolgenden Biographen als faktische Grundlage diente, hat auch Melvilles Herkunft und verzweigten Familienclan zum Inhalt, verweigert sich jedoch gegen tiefergreifende interpretatorische Zugänge. Im deutschen Sprachraum leistete vor allem die von Werner Schmitz und Daniel Göske ins Deutsche übersetzte, mit einem biographischen Kommentar versehene Textsammlung Herman Melville. Ein Leben, Briefe und Tagebücher (2004) unverzichtbare Pionierarbeit.

Die vorliegende neue Biographie bemüht sich, die seit Jahrzehnten gesammelten Forschungsergebnisse durch neue Erkenntnisse und Reflexionsprozesse zu ergänzen und diese einem deutschsprachigen Lesepublikum in anschaulich erzählerischer Form nahezubringen. Ihre Zielsetzung ist, eine Balance zwischen „äußeren“ faktischen und „inneren“ literarischen Annäherungsweisen zu finden und Melville sowohl als konkreten Menschen seiner Zeit als auch als einen über sein kulturelles Umfeld weit hinausreichenden Ausnahmeschriftsteller zu erfassen. Trotz seines großen gesellschaftlichen, politischen und ethischen Engagements ließ sich Melville nie in ein ideologisches Korsett zwängen. Seine anti-imperialistische, anti-rassistische und sozialreformerische Kritik an Amerika, die bis heute von erstaunlicher Aktualität ist, folgt einer radikalen Philosophie zwischenmenschlich-demokratischer Solidarität und wendet sich gegen jegliche Form hegemonialer Macht und Gewalt. All dies gestaltet Melville in einer auf die Moderne vorausweisenden Ästhetik brillanter Sprachphantasie, Unabgeschlossenheit und Fragmentariät, die bis heute den Lebensnerv seiner Leser mit unverminderter Intensität trifft.

3 Gedanken zu “HERMAN MELVILLE

  1. Herman Melville (1819-1891) gehört heute zu den bedeutendsten Vertretern der amerikanischen Literatur . Doch zu seinen Lebzeiten blieb ihm der literarische Erfolg versagt. Der kam erst nach seiner Wiederentdeckung in den 1920er-Jahren , wobei sein vielschichtiger Walfänger-Roman „Moby-Dick“ (1851) zu einem
    Klassiker der Weltliteratur wurde. Die Biografie des profilierten Amerikanisten Arno Heller will den Schriftsteller Herman Melville dem deutschsprachigen Lesepublikum in einer erzählerischen Form näher bringen und dabei auch die Aktualität seines literarischen Werkes neu erfahrbar machen. Beides ist ihm überzeugend gelungen, wobei sein Überblick über die ganze Breite der (vorwiegend englischsprachigen) Melville-Forschung, sein lebendiger Erzählstil und seine runden Werkinterpretationen eine besondere Hervorhebung verdienen. Als hochinformative, aktuelle und gut lesbare Melville-Biografie derzeit 1.Wahl. Für Amerikanistik-Studenten Pflichtlektüre, aber auch für ein breites Lesepublikum eine anregende und empfehlenswerte Entdeckungsreise in die Lebensgeschichte des Autors von „Moby Dick“.

    Ronald Schneider, ekz-Bibliotheksservice G.m-b.H., Reutlingen, 2017.

  2. Die Sprachgewalt von „Moby-Dick“

    Der Amerikanist Arno Heller lobt in seiner Biografie „Herman Melville“ nicht nur dessen berühmtestes Werk, sondern wirbt auch für weithin verkannte spätere Romane.

    Der Erzähler beginnt das erste Kapitel mittendrin, in den unendlichen Weiten des Meeres: „Sechs Monate auf See! Ja, Leser, so wahr ich lebe, sechs Monate kein Land gesichtet, auf der Jagd nach dem Pottwal unter der sengenden Sonne des Äquators, auf den Wogen des weithin rollenden Stillen Ozeans umhergeworfen – den Himmel über uns, die See um uns, und weiter nichts.“ Wer würde nach dieser Eröffnung nicht sofort an „Moby-Dick“ denken, den Roman des US-Amerikaners Herman Melville, der mit Kapitän Ahabs gnadenloser Jagd nach dem weißen Monsterwal 1851 Weltliteratur geschrieben hat? Vor allem die Verfilmung John Hustons 1956, mit Gregory Peck als dem getriebenen Walfänger Ahab, hat „Moby-Dick“ zum Teil des kollektiven Bewusstseins gemacht.

    Die eingangs zitierten Sätze sind tatsächlich von Melville, allerdings nicht aus seinem berühmtesten Werk, sondern aus seinem ersten Buch, „Typee“, das er 1844 bis 1846 verfasste, nach seiner Rückkehr aus dem Pazifik. Dort war er vier Jahre als Matrose unterwegs, auf einem Walfänger erst, von dem er sich ohne Erlaubnis abheuerte. Die abenteuerliche Reise samt Rückkehr hat er in mehreren Südseeromanen beschrieben. Sie entsprachen dem Zeitgeschmack, der Lust auf Exotik. Melville wurde das zweifelhafte Klischee verpasst, ein Mann zu sein, „der unter Kannibalen lebte“. Bis ins 20. Jahrhundert war das prägend.

    Bankrott und früher Tod des Vaters
    Auf das Frühwerk, also noch die Romane „Omoo“, „Mardi“, „Redburn“ und „White-Jacket“, geht der renommierte Amerikanist Arno Heller in seiner Biografie „Herman Melville“ (Verlag Lambert Schneider, WBG 2017, € 30,80) ausführlich ein, ehe er in zentralen Kapiteln die Entstehungsgeschichte von „Moby-Dick“ schildert und den Roman analysiert, um schließlich auch die lange Spätphase dieses Autors mit weniger bekannten, von der Kritik großteils ignorierten Werken vorzustellen. Melvilles „geistige Verfassung und sein inneres Leben“ können im Wesentlichen nur aus der Literatur erschlossen werden. Andere Quellen sind rar. Die erhaltene Korrespondenz umfasst 300 Briefe – bei Henry James etwa sind es 12.000. Also werden Leben und Werk bei Heller (der unter anderem an den Universitäten Innsbruck und Graz lehrte) eng verknüpft.

    Diese empathische und dennoch etwas akademische Biografie ist für deutschsprachige Leser gedacht, die an Melvilles Gesamtwerk interessiert sind. Sie verwertet wichtige Sekundärliteratur (Jay Leyda, Brian Higgins, Hershel Parker, Laurie Robertson-Lorant), die bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt ist. Wer mehr über die Kulturgeschichte der USA in der Ära Melville erfahren will, ist vielleicht mit Andrew Delbancos Biografie „Melville – His World and Work“ (2005, auf Deutsch 2007) besser bedient. Hellers ca. 300 Seiten lange Einführung konzentriert sich vor allem auf die Familiengeschichte, die Stärke seiner Frau Elisabeth Shaw, die tapfer zu dem erfolglosen Autor hielt.

    Melvilles Vorfahren hatten hohes Ansehen – wohlhabende Familien, brave Calvinisten. Die Großväter waren Helden der Amerikanischen Revolution, sein Vater Allan versuchte sich als Kaufmann. Als er nach missglückten Spekulationen und einem Bankrott 1832 starb, war die finanzielle Lage für seine Gattin und ihre vielen Kinder lang prekär – ein Grundgefühl, das dem künftigen Schriftsteller blieb. Herman musste diverse Jobs annehmen. Bald fuhr er zur See, erst auf einem Handelsschiff, dann heuerte er 1841 auf dem Walfänger Acushnet an. Nach vier Jahren kam er heim, mit genügend Stoff für eine Serie von Romanen. Sein bester sollte „Moby-Dick“ werden, Heller zeigt im Detail, was das Außergewöhnliche an diesem Magnum Opus, einem „menschlichen Mikrokosmos“, ausmacht. Aber zu Lebzeiten Melvilles war das Buch kein Bestseller. Nur 3215 Exemplare wurden bis 1891 verkauft. Die populäre Harriet Beecher Stowe konnte von „Uncle Tom’s Cabin“ (1852) mehr als 100.000 Exemplare absetzen.

    Dieser Autor trifft den Lebensnerv
    Auch das Spätwerk wird gelobt: „Pierre“, das sich an populären Schauerromanzen orientiert, der historische Roman „Israel Potter“ und der politisch brisante „Confidence Man“ werden als experimentell, als richtungsweisend für die Moderne, ja für die Postmoderne erachtet. Aber die Zeitgenossen lehnten sie ab, sodass Melville, bereits depressiv und krank, das Romanschreiben aufgab, sich der Lyrik zuwandte. Die ist, wie man herauslesen kann, ebenfalls ein weithin fremder Kontinent. An dem engagierten, gesellschaftskritischen Autor gibt es laut Heller noch viel zu entdecken. Melville schuf „eine für seine Zeit völlig neue, offene Ästhetik der Unabgeschlossenheit und Fragmentarität“. Bildhaft, experimentell, psychologisch sensibel und auch überbordend sinnlich sei seine Sprachgewalt. Sie treffe „den Lebensnerv von Menschen in aller Welt“.

    („Die Presse“, Print-Ausgabe, 16.05.2017)
    https://diepresse.com/home/kultur/literatur/5218385/Die-Sprachgewalt-von-MobyDick

  3. Kompakte, leidenschaftliche und sachkundige Biografie über den sprachgewaltigen Solitär der amerikanischen Literatur

    Herman Melvilles Werke sind von großartiger, Ehrfurcht gebietender Sprachkraft, voller Menschenliebe, berstend vor Anspielungsreichtum auf die Geistesgeschichte, die Geschichte und, nicht zu vergessen, von befreiendem Humor. Darüber hinaus war er ein Wahrheits- und Sinnsucher von großer philosophisch-ethischer und ästhetischer Standhaftigkeit. Das alles und noch viel mehr zeigt Arno Heller in seiner Biographie des sprachgewaltigen Solitärs der amerikanischen Literatur auf der Grundlage einer enzyklopädischen Kenntnis seines Werks, seines Lebens und der Forschungsliteratur. In einer kompakten -jedenfalls im Vergleich zu der zweibändigen, nur im Amerikanischen vorliegenden, fast zweitausendseitigen Biografie von Hershel Parker- bekommt der Melville-Freund einen umfassenden Überblick über das Leben und das Werk Melvilles und dessen Rezeption. Es ist erschütternd zu erfahren, wie engstirnig viele Kritiker Melvilles zu seiner Zeit waren. Weltanschaulich und von ihren literar-ästhetischen Vorstellungen. Teilweise ist das heute noch so, wenn man sich vorstellt, dass ein sprachlich so ungemein reiches Werk wie Mardi immer noch sehr umstritten ist, nur weil es nicht konventionellen Vorstellungen vom Roman entspricht. Auch in dieser Beziehung ist es sehr spannend, was Arno Heller über die neueste Forschungsliteratur schreibt. Auch dass er mit Sachkunde dafür eintritt, Melville nicht einseitig zum Vertreter einer bestimmten Weltanschauung zu machen, finde ich sehr überzeugend. Die Informationen und Anmerkungen zu seinem in Deutschland kaum bekannten Versepos „Clarel“ und auch zum weiteren Spätwerk sind darüber hinaus sehr erhellend. Seine Würdigung der unglaublichen Sprachmächtigkeit Melvilles an einigen Stellen seines Melville-Buches und auch noch ganz am Schluss gefällt mir besonders. Ich habe das Buch in ein paar Tagen verschlungen.

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